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Hingehört #BTW21 – Social Listening zur Bundestagswahl 2021: das Gesundheits- und Pflegesystem

Wo steht unser Gesundheits- und Pflegesystem im Wahlkampf?

 

Rund drei Monate vor der Bundestagswahl bestimmt die Corona-Pandemie sowohl den Alltag als auch die Nachrichtenlage. Aber wie sieht es bei der Gesundheitspolitik jenseits der Pandemie aus? Was sind die Pläne der Parteien für unser Gesundheits- und Pflegesystem? Und vor allem: Eignet sich Gesundheitspolitik zur Profilschärfung der Parteien und Positionierung im Bundestagswahlkampf? Wir haben uns in einem Social Listening die letzten vier Wochen auf Twitter als politische Debattenplattform angeschaut. Das Ergebnis ist eindeutig – und ernüchternd.

Gesundheitspolitik als großes Wahlkampfthema, bei dem über die politische Ausrichtung debattiert und um Inhalte gerungen wurde? Da muss man bis ins Jahr 2009 zurückblicken, als sich auch nach der Einführung des Gesundheitsfonds in die gesetzliche Krankenversicherung zum 1. Januar 2009 und der vorausgegangenen breiten gesamtgesellschaftlichen Debatte um Bürgerversicherung, Kopfpauschale und das Verhältnis von gesetzlicher zu privater Krankenversicherung die Diskussion fortsetzte und im Vorfeld der Wahl im September 2009 noch intensivierte.

Bis heute kocht die Diskussion in Grundzügen und neuem Gewand immer wieder hoch. Trotz eineinhalb Jahren Pandemie, die unser Gesundheitssystem, dessen Leistungsfähigkeit sowie die politischen Entscheidungen ins Zentrum des öffentlichen Interesses und der Berichterstattung zerrte, scheint sich Sachpolitik zu Gesundheit und Pflege nicht als Profilierungsthema für Parteien und Spitzenkandidaten zu eignen. Da unterscheidet sich der Wahlkampf 2021 wenig von dem 2017 oder 2013. Lediglich rund drei Prozent aller 227.000 Tweets, die wir im Rahmen unseres Suchstrangs zur Bundestagswahl im Zeitraum der vergangenen vier Wochen analysiert haben, thematisierten Gesundheit und Pflege. Festhalten kann man derzeit allerdings, dass sich Gesundheitspolitik sehr wohl für Skandalisierungen und politische Angriffe auch innerhalb der eigenen Koalition eignet. Auch das kennen wir bereits aus der Vergangenheit.

In den vergangenen vier Wochen hingegen tauchte allein die Pflegereform als inhaltsgetriebenes Thema auf Twitter auf. Aber auch dabei handelte es sich weniger um eine inhaltliche Sachdebatte, als vielmehr um Verlautbarungskommunikation: Kurz vor Ende der Legislaturperiode hat die Bundesregierung ein noch ausstehendes Thema aus dem Koalitionsvertrag in Angriff genommen und die Pflegereform im Kabinett verabschiedet. Zu Beginn der erneuten Zusammenarbeit der Großen Koalition hielt man Anfang 2018 im Koalitionsvertrag fest: „Wir werden die Arbeitsbedingungen und die Bezahlung in der Alten- und Krankenpflege sofort und spürbar verbessern. (…) Gemeinsam mit den Tarifpartnern wollen wir dafür sorgen, dass Tarifverträge in der Altenpflege flächendeckend zur Anwendung kommen.“ Das ist dann auch einer der Eckpunkte der nach langem Ringen in der Koalition ausgehandelten Pflegereform, die am 2. Juni vom Kabinett beschlossen wurde. Auf Twitter hat sich vor allem die SPD mit dem Spitzenkandidaten Olaf Scholz und dem Bundesarbeitsminister Hubertus Heil mit dem Thema Pflegereform profilieren können. Sie setzte sich mit dem klassischen SPD-Thema gerechter Lohn gegenüber der CDU und dem Ressort von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn durch. Der nachfolgende Beschluss der Pflegreform durch den Bundestag am 11. Juni ging eher leise vonstatten.

 

SPD kommuniziert mit Abstand am häufigsten zu den Themen Gesundheit & Pflege

 

Bündnis 90/ Die Grünen, Die Linke sowie die FDP spielen in der gesundheitspolitischen Wahrnehmung nur eine untergeordnete Rolle. Ähnlich verhält es sich mit den Tweets dieser Parteien, bei denen Gesundheitspolitik gar nicht oder nur in sehr geringem Umfang vorkommt. Bereits in der ersten Maihälfte hatte die SPD im Rahmen ihres außerordentlichen Parteitages am 9. Mai das Thema Gesundheitspolitik für kurze Zeit in unserem Social Listening nach vorn getrieben und entsprechende Twitter Resonanz erzielt. Hier ging es allerdings weniger um ein spezifisches gesundheitspolitisches Thema, als vielmehr um die Verkündigung der vier großen Zukunftsmissionen, die die sozialdemokratische Partei für Deutschland sieht: Mobilität, Klimapolitik, Digitalisierung und Gesundheitssystem. Dennoch zeigt die Twitter-Analyse, dass sich der Amtsbonus mit dem CDU besetzten Gesundheitsressort in der externen Wahrnehmung auszahlt. Ähnlich wie beim Thema Klimaschutz, bei dem die Union und SPD kommunikativ vorlegten und dennoch eine große Mehrheit der User auf Twitter traditionell Bündnis 90/ Die Grünen mit Klimaschutz assoziierte, bringen rund 58 Prozent der User Gesundheitspolitik mit der CDU in Verbindung, lediglich 26 Prozent mit der SPD. Wenn man sich hingegen die Aktivität der beiden Parteien und des Spitzenpersonals selbst auf Twitter anschaut, zeichnet sich das Bild genau andersherum: 57 Prozent aller Tweets zum Thema Gesundheit und Pflege wurden in dem analysierten Zeitraum von der SPD veröffentlicht, von der Union knapp 30 Prozent. Im prozentualen Vergleich zum eigenen und größten Anteil an gesundheitspolitischen Tweets seitens der SPD (57,4%), fällt dieser geringere Anteil an externen Tweets, die die SPD mit Gesundheitspolitik verbinden, besonders deutlich ins Gewicht.

 

Skandalisierung statt Sachdebatte

 

Dass die Assoziationen mit den Parteien und ihrem Spitzenpersonal nicht immer positiv sind, mag in Corona sensiblen Zeiten kaum überraschen. Welche Auswüchse dies haben kann, zeigt sich beispielsweise am Beef, der Bundesminister Jens Spahn im Zusammenhang mit der Ankündigung der Impfung von Kindern und Jugendlichen und dem damit einhergehenden Vorwurf traf, er sei Pharma-Lobbyist im Gesundheitsministerium. So war auch das Thema, das auf die mit Abstand größte Resonanz im Themenfeld Gesundheit und Pflege traf, leider ein Skandalthema: der Umgang des Bundesgesundheitsministeriums mit Millionen angeblich minderwertiger FFP2-Masken und deren Entsorgung. Ungeachtet von Fakten, Hintergründen und Zusammenhängen spielten Fassungslosigkeit, Vorwürfe und Empörungen den Ausschlag in der Twitter-Analyse nach oben. Willkommen im Wahlkampf.

 

Bürger:innen-Demokratie via Twitter

 

Ein Punkt in der Analyse ist aber doch überraschend und spiegelt das Phänomen der Informationsdemokratie der Sozialen Medien wider: die Reichweite des Tweets des Berliner Intensivpflegers Ricardo Lange, der mittlerweile wöchentlich im „Tagesspiegel“ über den Alltag im Krankenhaus berichtet. Am 13. Mai forderte er die Politik, in diesem Fall den Regierenden Bürgermeister von Berlin Michael Müller auf, den Austausch mit betroffenen Bürger:innen ernst zu nehmen und vier Monate nach einem Treffen wie verabredet die offen gebliebenen Fragen per E-Mail zu beantworten. Direkter, öffentlicher Austausch mit der Spitzenpolitik. Auch darauf muss sich die Politik einstellen. Nicht nur im Wahlkampf.

 

Social Listening auf Twitter: unser Vorgehen

 

Jede Wahl ist entscheidend, doch die Bundestagswahl 2021 markiert gleichzeitig das Ende der Ära Merkel und einen Paradigmenwechsel in der klassischen Parteienkonstellation der Bundesrepublik. Welche Themen stehen dabei im Vordergrund, vor allem aber: Welche Kommunikationsinstrumente prägen den Wahlkampf der Parteien und Spitzenkandidaten? Wir schauen in den nächsten Wochen und Monaten genauer hin, u. a. mit einem Social Listening der politischen Diskussionsplattform Twitter. Alle 2 Wochen #BTW2021

Mit Hilfe des Social Media Listening Tools Talkwalker wurde ein Suchstrang kreiert, der relevante Twitter-Nennungen zur Bundestagswahl 2021 ausgibt. Thematisch wurden die Inhalte der Wahlprogramme als Clusterthemen für die Analyse herangezogen. Dabei wurden Tweets der Bundesparteien CDU, SPD, Bündnis90/ Die Grünen, FDP und DIE LINKE sowie deren Fraktionen im Bundestag ebenso analysiert wie Tweets über die Parteien und Fraktionen in Zusammenhang mit bestimmten Themen. Der Suchstrang erzielte 227.600 Nennungen im Zeitraum vom 09.05. bis 09.06.2021. Im Rahmen dieser Nennungen wurden Fokusthemen herausgestellt und innerhalb derer Zusammenhänge, Relevanz, Häufigkeit sowie Tonalität untersucht.

 

 

Bild-Credit: Credits: Photo by nastya_gepp via pixabay.com under CreativeCommons-Zero Licence