Die wenigen Wochen, die wir bisher im Lockout/-down verbracht haben, zeigen, dass die Polarisierung öffentlicher Diskurse möglicherweise gerade eine Auszeit nimmt. Wir fokussieren uns auf die Mitte und das, was uns zusammenhält. Was zunächst auf das politische System zuzutreffen scheint, kann gegebenenfalls auch allgemeiner als eine Harmonisierung vormaliger sprachlicher Antagonismen betrachtet werden.
Das Home-Office, aktuell die Produktionsstätte zumindest der White Collar-Workforce, ist eigentlich eine Verschmelzung von ehedem sorgfältig getrennter Sphären. Wo in der Diskussion der letzten Dekade in der späten Adaption des Soziologen Ray Oldenbourg noch sogenannte „Third Places“ wie Biergärten, Pubs, Kaffeehäuser oder Fitnessstudios als neutrale Orte die ersten Places (Arbeit) und zweiten Places (Heim, Familie) voneinander abpufferten, so treffen im Home-Office die Welten „privat“ und „öffentlich“ aktuell ungebremst aufeinander.
Blending ist die neue Balance
Ein zweites vermeintliches Gegensatzpaar verschmilzt: Aus Work-Life-Balance wird Work-Life-Blending. Diese Diskussion hatte bereits vor Corona begonnen und jetzt wird deutlich: Leben und Arbeiten sind nicht notwendigerweise widerstrebenden Pole, sondern können möglicherweise symbiotisch miteinander verwoben werden. Mit der Analyse der Home-Office-Effekte in den nächsten Wochen wird auch dieses potentielle Gegensatzpaar eventuell neu bewertet werden.
Ähnlich verhält es sich mit einer dritten vermeintlichen Dichotomie, die in diesen Corona-Krisenzeiten für fast das gesamte Marktgeschehen zu gelten scheint: in der zunehmenden Solidarisierung von Marken/Unternehmen mit den dringendsten gesellschaftlichen Notwendigkeiten, wie wir sie aktuell täglich erleben (und beraten), entsteht gegebenenfalls eine in der Form bisher unbekannten Lesart von Social Business.
Social Business auf dem Vormarsch
Dieses Begriffspaar war bisher vornehmlich reserviert für die Beschreibung von Social Entrepreneurs, die im Geist des Social Business-Pioniers Mohammed Yunus eine gesellschaftliche Problemlösung mit einem profitablen Geschäftsmodell anstreben, wobei aller Gewinn für das soziale oder ökologische Unternehmensziel reinvestiert wird.
Im Zusammentreten von Social und Business verbirgt sich für gewinnorientierte Unternehmen generell zunächst ein Widerspruch – am prägnantesten vielleicht zusammengefasst in dem berühmten Diktum des Vordenkers der neoliberalen Chicago School, Milton Friedman: „The social responsibility of business is to increase its profits“.
Aktuell erleben wir ein Ausmaß einer Verschränkung von wirtschaftlicher und sozialer Verantwortung, die zuvor nur in Kriegszeiten erzwungen erfolgte:
- Zahllose Marken wie beispielsweise Mercedes, Lidl oder Nike nutzen ihre Mediainvestitionen, um Botschaften zum richtigen Verhalten in der Corona-Krise und Appelle, zuhause zu bleiben, zu verbreiten.
- Coca-Cola annonciert den vorläufigen Stop sämtlicher kommerzieller Werbung ab April 2020 und eine Spende von 120 Mio. US$ für Covid-19 Hilfsmaßnahmen.
- McDonald’s und ALDI SÜD verkünden eine ungewöhnliche Personalkooperation zum Ausgleich von Überkapazitäten hier und großer Nachfrage dort.
- Textil-Marken wie Trigema oder Mey stellen ihre Kapazitäten in den Dienst der Atemmaskenproduktion genauso wie z.B. Volkswagen oder Dyson sich bemühen, Beatmungsgeräte zu entwickeln. Und u.a. Jägermeister und Pernod Ricard stellen Desinfektionsmittel her.
Diese Liste ließe sich lange fortsetzen – es wird deutlich, dass die Verantwortung von Unternehmen und Marken in diesen Tagen deutlich jenseits einer reinen Profitorientierung verläuft.
Egoismus als Risiko
In ähnlicher Intensität, mit der gesellschaftlich zuträgliche Beiträge positive Resonanz erfahren, werden übrigens auch mögliche Verstöße gegen eine soziale Norm gebrandmarkt. Das gegenwärtig prägnanteste Beispiel ist vermutlich die Ankündigung von u.a. Adidas, Deichmann und H&M, aufgrund der Corona-bedingten Ausfälle im Cash-Flow die gewerblichen Mietzahlungen für die Shops einzustellen. Im Umfeld dieser Ankündigung werden Forderungen erhoben, sich daran auch nach Corona zu erinnern und durch z.B. Kaufverzicht zu sanktionieren. Die Konsequenzen von fehlender sozialer Empathie – und einem dezidiert profitorientierten Verhalten im Friedman’schen Sinne, wie z.B. die Senkung von Kosten in Zeiten geringer Erträge – reichen möglicherweise weit über den zeitlichen Horizont der Krise hinaus.
Social und Business erscheinen derzeitig nicht als Antipoden, im Gegenteil, der gesellschaftliche Mehrwert von Marken- und Unternehmenshandeln erscheint relevanter als je zuvor. Diese Entwicklung ist ebenfalls bekanntlich kein isolierter Corona-Effekt. Spätestens seit dem bahnbrechenden Aufsatz von Micheal Porter und Mark Kramer aus dem Jahr 2011 mit dem Titel „Creating Shared Value – Redefining Capitalism and the Role of the Corporation in Society“ diskutieren wir neue gesellschaftliche Herausforderungen für Marken und Manager.
Markenzweck: Solidarität?
Möglicherweise entsteht aber aktuell mit Solidarität ein neuer Markenzweck, der sich verbindlicher und fundamentaler materialisiert, als das bisher z.B. für Ansätze im Bereich „Corporate Social Responsibility“ der Fall war. Im Sinne des Nachhaltigkeitsmantra der “Triple Bottom Line” (immerhin auch schon mehr als 25 Jahre alt) erscheint relevant, dass auch die ökologische Dimension in eine solidarische Betrachtung mit einfließt. Wir dürfen gerade in China gespannt beobachten, ob eine wirtschaftliche Erholung mit sozioökologisch solidarischen Aspekten zu vereinen ist.
So vereinen sich in diesen Tagen vielleicht auch nachhaltig Konzepte, die vormals gegensätzlich erschienen. Zuhause im Office, Arbeit und Leben synchronisierend, erleben wir eine bemerkenswerte Integration der sozialen und ökonomischen (und hoffentlich auch der ökologischen) Sphäre.