Die Bundestagswahl rückt näher und so wollen wir uns in der heißen Phase des Wahlkampfs einmal näher mit den Hauptakteur:innen auf der Twitter-Bühne beschäftigen. Im Kontext welcher Themen präsentieren sich die Kandidat:innen und wie spricht die Twitter-Community über sie? Unser Themencheck.
Nach fast 16 Jahren im Amt wird Angela Merkel nicht mehr zur Wahl stehen. Zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik tritt die amtierende Kanzler:in damit nicht erneut an. Es gibt keinen Titelverteidiger und drei neue Herausforderer betreten das Feld. Für sie heißt es nun eigene Persönlichkeit und Positionen zeigen. So zeichnet sich der Wahlkampf 2021 durch ein hohes Maß an Personalisierung aus, wie wir bereits in unseren vorherigen Social-Listening-Analysen zeigen konnten.
Zugleich sind nach aktuellen Umfragewerten der Forschungsgruppe Wahlen vom 03.09.2021 weiterhin 26 Prozent unentschlossen, wem sie ihre Stimme geben sollen. Um diese Stimmen kämpfen die Kandidaten in besonderer Weise. Wenngleich sie auch in diesem Jahr auf Sommertour sind, haben die digitale Debatte und der digitale Wahlkampf durch die Corona-Pandemie auf sozialen Netzwerken an Bedeutung gewonnen.
Für die Twitter-Analyse untersuchten wir die Beiträge mit Nennung der Spitzenkandidat:innen von Union, SPD, Grünen, FDP und der Linken, in der eigenen Kommunikation und Parteikommunikation sowie in der allgemeinen Twitter-Community. Mit Beginn der ersten Sommerinterviews Anfang Juli startete die heiße Wahlkampfphase und so haben wir den Zeitraum vom 1. Juli bis 2. September evaluiert.
Insgesamt wurden 1.342 Posts der Kandidat:innen selbst oder ihrer Parteien mit Kandidat:innennennung ausgewertet sowie 815.000 Posts der allgemeinen Twitter-Community mit Nennungen. Die Kommunikation der Kandidat:innen selbst ist im Zeitverlauf konstant und bis zum ersten TV-Triell am 29. August stetig angestiegen. In der allgemeinen Kommunikation über die Kandidat:innen auf Twitter haben die Posts bis zum 16.08. deutlich zugelegt. Insbesondere die Kritik am NATO-Einsatz prägt die Kommunikation im Zeitverlauf. In diesem Zusammenhang gewinnt das Thema der Flüchtlingspolitik an Relevanz und wird bei der Bewertung eine wesentliche Rolle spielen.
Wie präsent sind die Kandidat:innen auf Twitter?
Mit 40 Prozent aller im Zeitraum betrachteten Posts der Spitzenkandidat:innen oder ihrer Parteien, nutzt Christian Lindner die Twitter-Bühne deutlich häufiger als seine Mitbewerber:innen, gefolgt von Olaf Scholz (31 %) und Armin Laschet (19 %). Annalena Baerbock (6 %) und die Spitzenkandidaten der Linken, Janine Wissler und Dietmar Bartsch (4 %), treten im Gegensatz dazu und gemessen an der reinen Anzahl an Tweets des Analysezeitraums weit weniger aktiv auf.
Schaut man sich an, wie häufig die Twitter-Community über die Anwärter:innen aufs Kanzleramt twittert, zeigt sich ein anderes Bild. Hier dominieren Armin Laschet (42%) und Annalena Baerbock (25%) die Debatte. Olaf Scholz liegt mit 16 Prozent in der Gesamtkonversation auf Platz drei. Am seltensten wird über Christian Lindner (12%) und die Linken gesprochen (5%). Die Aktivität der Kandidat:innen selbst entscheidet demzufolge nicht allein über die Präsenz.
Welche Themen treiben die Spitzenkandidat:innen?
Während wir in den vergangenen Wochen einen Blick auf die Parteithemen geworfen haben, schauen wir uns nun an, in welchem Kontext sich die Aspiranten präsentieren oder von ihren Parteien dargestellt werden.
Dabei ist zu beachten, dass das Thema Afghanistan im aktuellen Analysezeitraum die Themenlage zuletzt deutlich bestimmte. Die Themenkategorien Europa und Geopolitik haben daher bei allen Akteuren hohe Prozentwerte erreicht.
Armin Laschet äußert sich neben Europa und geopolitischen Beziehungen insbesondere zu Umwelt, Klimaschutz und Agrarpolitik. Er spricht wenig über Wirtschaft und Finanzen, während die Themen ansonsten sehr gleich verteilt sind. Es zeigt sich kein wirklicher Schwerpunkt oder ein Kernthema.
Annalena Baerbock positioniert sich zu 38 Prozent im Zusammenhang mit der Kernkompetenz der Grünen, Umwelt und Klimaschutz, gefolgt von Europa-Themen und Geopolitik. Im Unterschied zu Armin Laschet werden Wirtschaftsthemen von ihr häufiger auf die Themenagenda gesetzt.
Olaf Scholz spricht vor allem soziale Themen an und hebt hervor, dass er diese persönlich voranbringen wird. Der Fokus liegt analog zum Ansatz der SPD-Wahlkampagne klar auf ihm als Person, nicht auf der Partei.
Neben den Themen Europa und Geopolitik stellt Christian Lindner sich bevorzugt in den Kontext von Digitalisierung und Bürokratieabbau. Die FDP betont hierbei auch die früheren Erfolge und die Tradition von Sabine Leutheusser-Schnarrenberger.
Dietmar Bartsch und Janine Wissler von der Linken twittern verstärkt zu Europa und Geopolitik, gefolgt von Sozialem, Umweltthemen und Wirtschaft.
Welche Themen werden von der Twitter-Community aufgegriffen?
Schauen wir uns an, mit welchen Themen die allgemeine Twitter-Community die Akteure verknüpft. Insgesamt zeigt sich: Es sind insbesondere jene Themen, für die die Kandidaten besonders stark kritisiert werden. Die Debatte auf Twitter ist deutlich durch Personenkritik gekennzeichnet. Anhänger und Befürworter äußern sich insgesamt kaum zu politischen Themen. Die Kommunikation über Kandidaten und Themen verdeutlich die Spaltung der Lager in Anhänger der Union und Grünen, die ihre jeweilige Kritik am anderen Spitzenkandidaten zum Ausdruck bringen.
Schaut man sich die Aussagen und den Tenor genauer an, so zeigt sich: Armin Laschet wird im aktuellen Analysezeitraum vor allem im Zusammenhang mit dem Thema Umwelt-, Klima- und Agrarpolitik kritisiert, vor allem mit der Flutkatastrophe und insbesondere für sein Lachen bei der Rede des Bundespräsidenten. Er und seine Partei würden zudem die Klimakatastrophe fördern, so ein Twitter-Tenor. Diejenigen, die unter den Twitter-Usern „Klimaschutz first“ fordern, fordern zugleich auch „Laschet verhindern“.
Eine Vielzahl an Tweets kritisieren nicht nur Armin Laschet, sondern mit ihm auch seine Parteikollegen aus der Union, wodurch die negative Wahrnehmung in den Bereichen Umwelt- und Klimapolitik, Mobilität und Digitalisierung verstärkt wird. Für umweltfeindliche Mobilitätspolitik werden auch Christian Lindner und die FDP kritisiert.
Unter den kritischen Stimmen vertreten sind auch Stakeholder, wie Jens Hilgenburg (BUND) und Jörg Spengler (Bündnis 90/ Die Grünen), die die Klimapolitik der Union in Frage stellen.
Annalena Baerbock wird verstärkt im Kontext der Themen Bildung und Flüchtlingspolitik genannt. Kritisiert wird ihre Forderung, Flüchtlinge aus Afghanistan aufzunehmen. Dem gegenübergestellt werden Forderungen nach mehr Investitionen in Bildung und Ausbildung von Fachkräften im Land.
Zusätzlich wird sie für „fehlende Antworten“ im Bereich Bildungs- und Schulpolitik kritisiert. Die Twitter-Community erwartet konkrete Lösungsvorschläge von der Kanzlerkandidatin zur Verbesserung der Pandemie-Situation in den Schulen, aber auch zu allgemeinen Bildungsthemen und der Digitalisierung der Schulen.
Im Zusammenhang mit Olaf Scholz sind es nicht etwa soziale Themen, die aufgegriffen werden, sondern ebenso das Thema Umwelt-, Klima- und Agrarpolitik. Kritik gibt es hier für seine Forderung, den Kohleausstieg nicht früher als geplant zu vollziehen und zugleich den Ausbau von erneuerbaren Energien zu fördern. Seine Haltung wird mit der CDU gleichgesetzt und es wird betont, Olaf Scholz sei der alternative Kanzlerkandidat der Wahl für jene, die Armin Laschet als Person ablehnen, aber nicht die Grünen wählen wollen.
Christian Lindner wird in der Twitter-Community deutlich stärker mit Wirtschafts- und Finanzthemen in Verbindung gesetzt, als er sich in seiner Eigendarstellung präsentiert. Das Thema Digitalisierung tritt dafür eher in den Hintergrund. Vielmehr diskutieren die Twitter-User die Ankündigung, FDP-Chef Lindner wolle im Falle einer Beteiligung seiner Partei an der nächsten Bundesregierung das Finanzministerium für sich beanspruchen.
Die Ablehnung einer bundesweiten Online-Plattform für Hinweise auf Steuerbetrüger durch die FDP wird ebenso verurteilt, sei die FDP doch die Partei, die sich eigentlich für Digitalisierungsthemen stark mache. Der Vorwurf der Twitter-Community lautet, die FDP wolle in diesem Fall die eigene Klientel nicht verlieren.
Dietmar Bartsch und Janine Wissler, die Spitzenkandidaten von der Linken, werden zu 48 Prozent von der Twitter-Community im Zusammenhang mit dem Thema Europa und Geopolitik genannt. Sie erhalten deutlich positivere Resonanz als die Kandidaten der anderen Parteien. Insbesondere ihre kritische Haltung zur NATO und Afghanistan-Politik stößt auf stärkere Zustimmung.
Die Posts von Bartsch und Wissler weisen insgesamt die stärksten Übereinstimmungen zwischen den eigenen gesetzten Themen und den aufgegriffenen Beiträgen der Twitter-Nutzer auf. Dies zeigen auch die genutzten Emoticons in den betreffenden Beiträgen, die Übereinstimmung und Relevanz ausdrücken.
Insgesamt lässt sich festhalten: Die Aktivität der einzelnen Kandidat:innen auf Twitter entscheidet nicht alleine über die Präsenz in der politischen Debatte und schon gar nicht über den Tenor der Kommunikation. Darüber entscheidet die Twitter-Community. Twitter ist nicht nur politische Bühne der Kanzleramtsanwärter:innen, sondern eine Plattform für Meinungsäußerung und Kritik. Die Analyse zeigt, wie schnell das Online-Publikum auf aktuelle Ereignisse reagiert und wie sehr diese polarisieren oder Stimmungen beeinflussen können.
Armin Laschet und die Union müssen aktuell vor allem Kritik zu ihrer Umwelt,- Klima- und Agrarpolitik einstecken. Dem gegenüber fehlt es seitens Laschet an einem starken Kompetenzthema, das entgegengesetzt wird. Annalena Baerbock wird wiederum nicht nur an der eigentlichen Kernkompetenz der Partei gemessen, sondern es werden konkrete Lösungsansätze in den Bereichen Bildung und Flüchtlingspolitik gefordert. Olaf Scholz wird in einzelnen Posts zwar für sein Festhalten am Kohleausstieg 2038 kritisiert, insgesamt ist der Tenor ihm gegenüber aber deutlich weniger negativ und es wird weniger gepostet. Christian Lindner schafft es nicht, sich mit seinem Wahlkampfthema Digitalisierung zu positionieren und wird stattdessen für seine Kompetenzen im Bereich der Wirtschafts- und Finanzpolitik sowie Mobilitätspolitik kritisiert. Lediglich Dietmar Bartsch und Janine Wissler erhalten von der Twitter-Community eher Zustimmung zu den aktuellen Themen, die sie selber setzen.
Sympathien und Stimmungen entscheiden
Unsere Twitter-Analyse, aber auch aktuellen Umfragewerte zeigen, wie schnell Patzer der einzelnen Spitzenkandidaten in diesem Wahlkampf bestraft werden und wie stark Sympathien wirken. Während Annalena Baerbock von den Grünen zuletzt Erklärungen über Plagiatsvorwürfe, angebliche Täuschungen und die Nutzung des N-Wortes liefern musste, hagelte es massive Kritik an Armin Laschet, nachdem dieser bei der Rede des Bundespräsidenten zum Trost der Opfer im Hintergrund lachte. Kritisch werden auch seine Haltungen zur Außenpolitik betrachtet. Olaf Scholz musste in der Vergangenheit zwar ebenso gegen den Vorwurf betrügerischer Aktivitäten bei Wirecard ankämpfen, profitiert derzeit aber von der Kritik an seinen Konkurrenten Laschet und Baerbock. Seine Kommunikation als Person überwiegt die Kommunikation der Themen des SPD-Wahlprogramms.
Olaf Scholz, der eher konservative SPD-Politiker, scheint in seiner überlegten Art derzeit für die Wähler unter allen Kandidaten der beste Merkel-Nachfolger zu sein und präsentiert sich auch so, während Union und Grüne die Wähler deutlich polarisieren. Auch die Spitzenkandidaten der Linken profitieren aktuell von der Kritik an den anderen Akteuren und ihrer Haltung beim Thema NATO und Afghanistan. Welche Rolle sie im Zuge der Wahl und möglicher Koalitionen einnehmen werden, bleibt weiterhin spannend.