Man stelle sich vor: an einem verkaufsoffenen Sonntag im Advent – am besten am letzten vor dem Weihnachtsfest – beschließen Globetrotter oder Jack Wolfskin, alle Geschäfte inklusive der Mall-Outlets und Eventtempel in den deutschen Innenstädten nicht zu öffnen. Stattdessen schicken sie alle Mitarbeiter und Kunden in die Natur zum Wandern, Langlaufen und Mountainbiking.
Das täten diese Händler von Outdoor-Equipment nicht leise mit verschämten Schildern an den Türen („Heute wegen Betriebsausflug geschlossen“), sondern sehr hörbar in einem moral- und wertegetriebenen Appell an ein Auditorium weit über den eigenen Kundenkreis hinaus mit der Aufforderung, über den eigentlichen Wert von freien Feiertagen nachzudenken. Die gewinnmaximalen Kaufleute hinterfragen den kollektiven Konsumhype und machen damit zugleich Kampagne.
Wenn nicht unvorstellbar, dann zumindest außergewöhnlich mutig erscheint eine solche Vorgehensweise doch. Genau dieser Mut jenseits aller traditionellen betriebswirtschaftlichen Grundsätze des amerikanischen Labels REI ist in diesem Jahr in der PR-Kategorie der CLIO-Awards gefeiert worden – wie auch schon zuvor im Sommer bei den Cannes Lions.
Kulturell, kontrovers, konsequent
Mit der Kampagne #Optoutside hat REI nahegelegt, auf das Black Friday-Shopping zu verzichten (bekanntermaßen der umsatzstärkste Einkaufstag in den USA) und viel lieber die Natur zu erleben. Hierfür generierten User und Mitarbeiter unzählige Tipps und Inspirationen. Diese stellten sie mobil optimiert auf allen Outdoor-relevanten Touchpoints zur Verfügung.
Die großen Blockbuster-Kampagnen, die in den letzten Jahren in den PR-Kategorien der großen internationalen Awards gewonnen haben, verweisen alle auf ein ähnliches Muster: Hier werden mutige, kulturell kontroverse und konsequent artikulierte Haltungen von Unternehmensmarken gefeiert und bewundert. Man kann vermutlich zu Recht „Real Beauty“ von Unilever’s Dove zur Mutter all dieser Haltungskampagnen im Zeitalter reichweitenstarker digitaler Diskurse erklären. Aber auch Gatorade’s Replay Everything oder Ariel’s INDIA waren herausragende Vertreter dieser neuen Apotheose von PR. Vor allem aber #likeagirl von P&G’s Always, der Allesgewinner in PR (und auch in anderen Kategorien) des Jahres 2015 war ein Höhepunkt dieses Trends, der kaum noch zu toppen schien. Und dann kam #Optoutside…
Im Rahmen seiner immer bemerkenswerten „State of the Marketing World“ in Cannes hat Keith Weed, CMO von Unilever, vor wenigen Monaten angekündigt, dass das Unternehmen sein gesamtes Markenportfolio auf das Ausmaß des Wertbeitrages jenseits der rein ökonomischen Transaktion überprüfen wird. Die zentrale Herausforderung lautet: Jede Marke muss einen klaren Purpose repräsentieren und kommunizieren – so wie das „Real Beauty“ exemplarisch gezeigt hat.
Die Evolution der Press Relations
Die These, dass dies der Verdienst einer neuen Öffentlichkeit und einer neuen gesellschaftlichen Diskurskultur ist, die natürlich maßgeblich von dem Potential digitaler Partizipation und Multiplikation getrieben ist, erscheint naheliegend. Noch vor einigen Jahren drohte sich die angestaubte Disziplin PR mit ihren antiquarischen Instrumentarien wie gefaxten Pressemitteilungen selbst ins Nirvana der „Press Relations“ zu verabschieden. Dann kam die digitale (R)Evolution und mit ihr die Wiederentdeckung der Öffentlichkeit, der Public – und die Entpuppung neuer Möglichkeiten.
PR hat die historische Gelegenheit, auch als Akronym für Purpose Relations zu stehen! Dies geht mit der Aufgabe einher, Beziehungen von Unternehmen und Institutionen zu zentralen gesellschaftlichen Diskursarenen ins Zentrum zu stellen und sie in Form von klaren Zweck- und Haltungscommitments zu identifizieren, etablieren, inszenieren und zu multiplizieren. In dieser Aufgabe besteht – so ist meine feste Überzeugung – eine bedeutende Komponente unternehmerischer Wertschöpfung, bei der vor allem die Tugenden und Kompetenzen von PR helfen können, gesetzte Ziele zu realisieren.
Die richtigen Werte zählen
Nun, schon fast anderthalb Jahrzehnte hat sich die angewandte Markenwissenschaft, unterstützt von großen Unternehmensberatungsfirmen, an der (nicht sonderlich erfolgreichen) Berechnung eines bilanziellen Wertes von Marken in Form der Brand Equity-Modellen versucht. Oft sind sie dabei bei maximal mangelhaft zu bewertenden Kompromissen mit enormen Schwankungsbreiten in Präzision und Aussagekraft angelangt. Möglicherweise liegt diesen Berechnungsversuchen aber auch ein Denkfehler zugrunde, für dessen Korrektur ikonische Kampagnen wie #likeagirl oder #optoutside zumindest einen intellektuellen Richtungswechsel suggerieren.
Es ist es nicht nur die Aufmerksamkeit (um jeden Preis), die den Wert einer Marke determiniert. Vielmehr sind es auch die Werte, die eine Marke repräsentiert, welche die Aufmerksamkeit erzeugen. Das Schaffen von Werten – Value Creation – im eigentlichen Sinne von gesellschaftlich relevanten und sinnstiftenden Haltungen.
Der Auftrag von PR als Disziplin, die schon immer komplex, dialogisch und multilateral gedacht hat, muss hier lauten: Wie können wir durch die systematische Identifizierung und Aktivierung von Marken-Purposes eine glaubwürdige und tragfähige Beziehung für Marken herstellen? Und wie können wir dadurch Werte schaffen, die kampagnenfähig sind und Aufmerksamkeit generieren –
Purpose Relations ist Value Creation.
Zahlreiche Beispiele von interessanten Clio-Arbeiten seien zum Abschluss als Inspirationen zum Weiterdenken dieser These genannt:
- The Touchable Ink von Samsung – als nächster Beleg einer Kreativstrategie von Samsung, gesellschaftliche Inklusion durch Technologie
- Korea Telecom Live Saving TV – eine Applikation artikuliert das große kulturelle Sentiment von Altenpflege und einen veränderten Familienbegriff
- Honey Nut Cheerios opfert sein Bienen-Logo auf der Packung, um auf das Bienensterben und die umfassenden ökologischen Implikationen hinzuweisen
- Pfizer’s Kampagne Age Shamelessly stellt aus einer vermeintlichen Generationskontrastierung heraus grundsätzliche Sinn-Fragen zu Lebenseinstellung, Optimismus und Alltags