Wie wirkt sich die Bildungssituation in Corona-Zeiten auf den Wahlkampf aus? Die Schüler:innen hatten unter der bisherigen Pandemie enorme Einschränkungen und Herausforderungen zu bewältigen, die sich auf das weitere Ausbildungs- und Berufsleben auswirken können. Erneute Schulschließungen sollen daher unbedingt vermieden werden. Doch unter welchen Bedingungen?
Diskutiert werden derzeit Impfungen für Kinder und eine Fortsetzung der Maskenpflicht. Die Corona-Pandemie und die Schulschließungen haben bestehende Herausforderungen im Bildungsbereich noch sichtbarer gemacht und Fragen nach Investitionen und Ausstattung, Digitalisierung, Chancengleichheit und Inklusion ganz oben auf die gesellschaftspolitische Agenda gesetzt. Am Thema Bildung führt im Wahlkampf 2021 kein Weg vorbei.
Die Politik muss liefern
Nachdem bereits im vergangenen Jahr zentrale Fragen zum Weiterbetrieb des Unterrichts und die Bedingungen in Schulen diskutiert wurden, hat die Verbreitung der Delta-Mutante aktuell eine hitzige Fortsetzung der
Debatte ausgelöst, insbesondere seit Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) angedeutet habe, im Herbst könnte Wechselunterricht wieder erforderlich werden. Wenngleich in den letzten Wochen etwas Normalität in den Schulablauf eingekehrt ist, stellt sich bereits die Frage, wie der Schulbetrieb auch nach den Sommerferien aufrechterhalten werden kann.
Diese Entwicklung der Debatte zeigt auch die Kommunikation auf Twitter. 10% aller Tweets unserer aktuellen Twitter-Analyse zur Bundestagswahl, den Parteien oder Spitzenkandidaten, haben im Zeitraum vom 07. Juni bis 07. Juli, bildungspolitischen Bezug. Zuletzt sind vor allem Beiträge der allgemeinen Twitter-Community über Politik und Parteien mit Blick auf Bildungsthemen kontinuierlich und deutlich angestiegen. Im Vergleich zum vorherigen Untersuchungszeitraum hat auch die Gesamtaktivität auf Twitter zur Bundestagswahl zugenommen.
Während sich Parteien und Spitzenkandidaten nahezu gleichermaßen häufig zu Bildungsthemen äußern, beziehen sich die Posts aus der Gesamtkonversation auf Twitter vor allem auf Bündnis 90/ Die Grünen (42%) und die Union (31,3%). Der Tenor ist zumeist negativ und zeugt von Unzufriedenheit mit beiden Parteien in der Twitter-Community.
Die Debatte gewinnt an Emotionalität und Schärfe
Unsere aktuelle Social-Media-Analyse zeigt: Die Debatte zeichnet sich insgesamt durch Klarheit, Schärfe und zunehmende Personalisierung aus. Während im vergangenen Jahr akute Herausforderungen diskutiert wurden, muss die Politik sich in diesem Jahr der Frage stellen, welche Maßnahmen seit 2020 umgesetzt wurden und was aus der bisherigen Pandemie gelernt wurde?
Chancengleichheit wird zum zentralen Thema
Wichtiger wird die Frage, wie die Lerndefizite ausgeglichen und Kinder und Jugendliche unterstützt werden können, damit sie in ihrem späteren Ausbildungs- und Berufsleben nicht benachteiligt sind. Chancengleichheit hat als zentrales Thema in der Bildungsdiskussion damit enorm an Gewicht gewonnen. Und die SPD greift das soziale Thema auf Twitter mehrfach auf. Wie schon in den Wochen zuvor ist die SPD erneut sehr aktiv und positioniert sich vor allem im Zusammengang mit dem Mitte Juni beschlossenen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung, den sie als wesentlichen Schritt in Richtung mehr Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie als Motor für mehr Bildungsgerechtigkeit ansieht.
Berufliche Bildung und Digitalisierung
Zusätzlich greift die SPD das Thema Stärkung der beruflichen Bildung unter dem Aspekt des Fachkräftemangels auf und fordert eine Ausbildungsoffensive durch Bund und Länder, damit Ausbildung nicht von der sozialen Herkunft abhängig sei. Gleiche Bildungschancen, unabhängig vom Status des Elternhauses, fordern auch Bündnis 90/ Die Grünen. Allerdings steht dieser Forderung die negative Berichterstattung um Annalena Baerbocks Stipendium der Heinrich-Böll-Stiftung von 40.000 Euro für eine ruhende Promotion gegenüber, die in der allgemeinen Twitter-Community die Debatte zu Bildungsthemen Ende Juni überschattet hat.
Die CDU verwies insbesondere auf die Veröffentlichung des Abschlussberichts der Enquete-Kommission “Berufliche Bildung in der digitalen Arbeitswelt”, um sich als Förderer der digitalen Transformation in der beruflichen Aus- und Weiterbildung zu präsentieren. Auch die FDP führt mit dem aktuellen Forschungsbericht der Kooperationsstelle Hochschulen und Gewerkschaften der Universität Göttingen zum Thema „Digitalisierung im Schulsystem“ eine aktuelle Veröffentlichung an, um ihren Einsatz im Bereich der Digitalisierung zu untermauern. Sie fordert schnelleres Vorankommen beim Digitalpakt Schule. Die Bundesregierung habe Bildung und Digitalisierung unabhängig von der Pandemie zu stiefmütterlich behandelt.
Bildung – aber sicher
Unter den Parteien und Spitzenkandidaten selbst zeichnen sich im Zeitverlauf drei wesentliche Peaks ab, zu denen vermehrt über Bildungsthemen kommuniziert wurde. Mitte Juni griff die CDU die erlassene Förderrichtlinie des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie für Corona-gerechte Lüftungsanlagen mit Wirkung zum 11. Juni 2021 auf, die den Neueinbau von Frischluftanlagen in Bildungs- und Betreuungseinrichtungen für Kinder unter 12 Jahren fördern soll.
Ein weiterer Anstieg in der Kommunikation von Schul- und Bildungsthemen ist auf Seiten der Parteien und Spitzenkandidaten zwischen dem 20. und 23. Juni sichtbar, nachdem die Süddeutsche Zeitung berichtete, Jens Spahn habe angekündigt, den Schulbetrieb im Herbst erneut im Wechselmodell stattfinden zu lassen. Daraufhin forderten vor allem Bündnis 90/ Die Grünen von der Bundesregierung sichere Schulen und Kitas nach den Sommerferien.
Ein weiteres Thema war die Aufhebung der Maskenpflicht in Schulen. Unter den Twitter-Usern gibt es beim Thema Distanzunterricht sowohl Befürworter als auch Gegner. Ein Konsens besteht jedoch in der gemeinsamen Forderung eines Einsatzes von Masken und Luftfiltern. Die Maskenpflicht könne nur fallen, wenn ausreichend Luftfilter zur Verfügung stünden.
Genau hingeschaut!
Die dritte Phase der bildungspolitischen Kommunikation der Parteien und Spitzenkandidaten auf Twitter ist gekennzeichnet durch den Wahlkampf selbst und einen Anstieg an personenbezogener Kritik. Dies ist sehr gut an den vorherrschenden Hashtags in diesem Themenbereich erkennbar. Insbesondere an Bündnis 90/ Die Grünen und Winfried Kretschmann, der die Notwendigkeit eines Bildungsministeriums auf Bundesebene in Frage stellte und damit die Frage nach dem Bildungsföderalismus in Deutschland erneut aufwarf. Vor allem die FDP übt an seinen Aussagen Kritik und fordert mehr bundesweite Vergleichbarkeit, Kooperation zwischen Bund und Ländern sowie finanzielle Mitverantwortung durch den Bund.
Bündnis 90/ Die Grünen verteidigen Annalena Baerbock (siehe Post), die im aktuellen Zeitraum Vorwürfe zur Finanzierung ihrer ruhenden Promotion durch die Heinrich-Böll-Stiftung und Plagiatsvorwürfe zu ihrem Buch einstecken musste. Für ihre nicht beendete Promotion, die von der Heinrich-Böll-Stiftung mit 40.000 Euro gefördert wurde, hagelte es in der allgemeinen Kommunikation auf Twitter Protest.
In diesem Zusammenhang wurde auch die Rolle und Verantwortung politischer Stiftungen diskutiert und die Frage, wie unabhängig der Zugang zu Fördermaßnahmen grundsätzlich sei. Die Debatte auf Twitter schwächt die Glaubwürdigkeit der Position von Bündnis 90/ Die Grünen, nach deren Wahlprogramm „Bildungspolitik Chancenpolitik“ ist.
Die Union profitiert derzeit von der aktuellen Kritik an Bündnis 90/ Die Grünen sowie von der momentanen Normalisierung des Schulablaufs und der Sommerpause. Aber auch sie erhielt weiterhin kritischen Gegenwind. Neben fortlaufender Kritik an Jens Spahn wurde getwittert, Armin Laschet habe während seiner Lehrtätigkeit in Aachen Noten verloren und rekonstruiert und dieses manipulative Vorgehen stünde im Gegensatz zu Annalena Baerbock nur nicht im Fokus, da er keine Frau sei.
Bei erneuten Schulschließungen nach den Sommerferien bleibt abzuwarten, ob die Kritik an der Union wieder anwachsen wird und ob sich die Lage für Bündnis 90/ Die Grünen erneut entspannt.
Insgesamt zeigt sich: Der Wahlkampf entwickelt sich auch in Deutschland mehr und mehr zu einer Personenwahl, wie die Twitter-Debatten über die persönlichen Verfehlungen der Spitzenkandidaten aufzeigt. Sie werden genau unter die Lupe genommen, was auch durch entsprechende Emojis untermauert wird.
Beim Thema Bildung ist Transparenz besonders relevant, so gefährden Irritationen über die Personen die Glaubwürdigkeit beim Einsatz für Chancengleichheit, die in Zeiten der Pandemie – und neben Luftfilteranlagen an Schulen – ein wesentliches Schwerpunktthema bildet.
Bildung bleibt ein herausforderndes Thema für die Politik, es wird viel abverlangt und die Kandidaten werden am eigenen moralischen Handeln gemessen. Gleichzeitig stellt sich angesichts der enormen Menge an personenbezogenen Wahlkampfäußerungen seitens Parteien und allgemeiner Twitter-Community aber auch die Frage: Brauchen wir angesichts der aktuellen Herausforderungen für Schulen, Kinder und Jugendliche nicht eine politische Debatte, die die bildungspolitischen Kernthemen wieder stärker ins Auge fasst?
Social Listening auf Twitter: unser Vorgehen
Jede Wahl ist entscheidend, doch die Bundestagswahl 2021 markiert gleichzeitig das Ende der Ära Merkel und einen Paradigmenwechsel in der klassischen Parteienkonstellation der Bundesrepublik. Welche Themen stehen dabei im Vordergrund, vor allem aber welche Kommunikationsinstrumente prägen den Wahlkampf der Parteien und Spitzenkandidaten? Wir schauen in den nächsten Wochen und Monaten genauer hin, u. a. mit einem Social Listening der politischen Diskussionsplattform Twitter. Alle 2 Wochen #BTW2021
Mit Hilfe des Social Media Listening Tools Talkwalker wurde ein Suchstrang kreiert, der relevante Twitter-Nennungen zur Bundestagswahl 2021 ausgibt. Thematisch wurden die Inhalte der Wahlprogramme als Clusterthemen für die Analyse herangezogen. Dabei wurden Tweets der Bundesparteien CDU, SPD, Bündnis90/ Die Grünen, FDP und DIE LINKE sowie deren Fraktionen im Bundestag ebenso analysiert wie Tweets über die Parteien und Fraktionen in Zusammenhang mit bestimmten Themen. Der Suchstrang erzielte 26.700 Nennungen im Zeitraum vom 07.06. bis 07.07.2021. Im Rahmen dieser Nennungen wurden Fokusthemen herausgestellt und innerhalb derer Zusammenhänge, Relevanz, Häufigkeit sowie Tonalität untersucht.
Die ausgewählten Beispiele der Twitter-Posts sind der Top 30 Beiträge nach Engagement in dem untersuchten Zeitraum entnommen. Die Bewertung von Engagement ergibt sich aus der Anzahl an Retweets, Likes und Followern.
Weitere Beiträge zur Bundestagswahl 2021:
Hingehört #BTW21 – Social Listening zur Bundestagswahl 2021: Wirtschaft und Finanzen
Hingehört #BTW21 – Social Listening zur Bundestagswahl 2021: Gesundheit
Hingehört #BTW21 – Social Listening zur Bundestagswahl 2021: die Klimadebatte