Ob Impfstoffentwicklung, Krebstherapien, Technologien zur Abscheidung von Treibhausgasen oder nachhaltigere Bau-, und Verpackungsmaterialien: Forschung und Entwicklung müssen unter Zeitdruck Lösungen für akute Probleme liefern. Ressourcenknappheit bei Energie und Rohstoffen sowie gestörte Lieferketten verschärfen die Herausforderungen. Die resultierenden sozialen, ökologischen und ökonomischen Imperative verstärken den Druck, Entwicklungszeiten bis zur Einsatzfähigkeit zu reduzieren, ohne Abstriche bei Qualität und Sicherheit zu machen. Ein unlösbarer Zielkonflikt? Nicht unbedingt. Innovationen im Bereich der KI, des Cloud- und des Quantencomputings helfen, wissenschaftliche und industrielle Prozesse zu beschleunigen.
Forschung – ein zeitaufwändiger Prozess
In der traditionellen Forschung sind Durchbrüche meist das Ergebnis langwieriger Versuchsreihen – oder zufälliger Entdeckungen. Teflon, Vaseline, Mikrowellen, Röntgenstrahlen oder Graphen (ein Material, das aus nur einer Lage von Kohlenstoffatomen besteht und als „Werkstoff der Zukunft“ gehandelt wird), sind Beispiele dafür. Mitunter waren auch kleine Fehler oder Nachlässigkeiten für bahnbrechende Entdeckungen vorhanden, wie im Fall des Penicillins.
Heute ist es möglich, „trial und error“ zu beschleunigen und dem Zufall auf die Sprünge zu helfen. Eine zunehmend datengetriebene Wissenschaft kann die Phasen des Forschungsprozesses schneller durchlaufen als je zuvor. Aber selbst mit heutigen Hochleistungscomputern dauert es Jahre und kostet Millionen, um etwa ein neues Material mit bestimmten Eigenschaften zu entwickeln. Abhilfe verspricht der KI-, Cloud- und Quantencomputer-getriebene Accelerated Discovery-Ansatz, den bislang vor allem IBM verfolgt.
Accelerated Discovery: Forschen und Entwickeln im Warp Speed-Modus dank neuer Technologien
Der Ansatz kann dazu beitragen, die Resilienz von Lieferketten zu verbessern und sie robuster für Krisen zu machen. Er besitzt das Potenzial, Zeitaufwand und Kosten für die Entwicklung auf ca. 10 % heutiger Werte zu senken. Accelerated Disovery wird bei der Entwicklung von Materialien zur Kohlenstoffabscheidung, Düngemitteln, umweltfreundlichen Batterien sowie Impfstoffen und Therapien von großem Nutzen sein.
Zum Einsatz kam Accelerated Discovery unter anderem bei der Entwicklung von neuen, nachhaltigen Fotosäure-Generatoren (Photoacid Generators, PAG). PAG sind eine kritische Klasse von Materialien, die in der Halbleiterherstellung und damit in Chips verwendet werden. Ohne sie würde in einer digitalisierten Welt folglich nicht viel funktionieren. Herkömmliche PAG gerieten jedoch in den letzten Jahren zunehmend in den Fokus von Umweltbehörden.
Materialentwicklung im Zeitraffer
Die Entdeckung eines neuen Moleküls, das bestimmte Leistungs- und Nachhaltigkeitseigenschaften erfüllen soll, dauert in der Regel bis zu zehn Jahre und kostet zehn bis hundert Millionen EUR. Einem IBM-Forscherteam gelang es dennoch, mit Hilfe eines vollständig KI-gestützten Prozesses drei neue PAG-Kandidaten in Monaten statt Jahren zu synthetisieren.
Um einen neuen PAG zu entwickeln, ermittelte das Team zunächst die Eigenschaften, die er besitzen sollte. Anschließend nutzte es KI-getriebene Technologien wie generative Modelle und Deep-Learning-Architekturen, um ihn zu entwerfen und zu synthetisieren. Ein einzigartiges, über die Cloud zugängliches KI-gesteuertes Roboterlabor ermöglicht es zudem, Experimente bis zu hundert Mal schneller durchzuführen als mit herkömmlichen Methoden. Ähnliche Methoden kommen bei der Erforschung von Batteriealternativen zum Einsatz, die Schwermetalle in Lithium-Ionen-Batterien überflüssig machen sollen.
Generative KI-Modelle erzeugen mögliche Materialkandidaten
Eine Simulation erstellt dabei ein so genanntes generatives KI-Modell, das, nachdem es mit einem Datensatz „trainiert“ wurde, automatisch neue Objekte mit Eigenschaften generiert, die den ursprünglichen Daten ähneln. Trainiert man das Modell mit Bildern weißer Katzen, erzeugt es weitere weiße Katzen, von denen jede einzelne einzigartig ist. Die Technologie, die weiße, flauschige Katzen erzeugen kann, generiert auch Moleküle.
Die Forscher trainierten das generative KI-Modell also mit den Struktur- und Eigenschaftsdaten heute gebräuchlicher PAG. Daraufhin generierte es in nur fünf Stunden etwa 2.000 potenzielle Molekülkandidaten. Das Team setzte sein generatives Modell auch ein, um eine neue Polymermembran zur Absorption von CO2 zu entwerfen. Das Prinzip soll auf weitere Materialien und Anwendungsgebiete ausgeweitet werden. So sollen nachhaltige Batterien, Polymere, Medikamente, lichtemittierendes Material, Lebensmittelzutaten, Düngemittel oder biologisch abbaubare Plastikflaschen entstehen.
Cloud-Plattformen und Quantencomputer sorgen für weitere Beschleunigung
Die vier eingesetzten KI-Technologien (Deep Search für die schnellere Erfassung von unstrukturierten Daten, Simulationen für schnelleres Screening, generative Modelle und die schnellere Synthese in automatisierten Anlagen) ermöglichen eine bisher unerreichte Entwicklungsgeschwindigkeit. Optimal ergänzt werden sie durch weitere Technologien. Mit Hilfe einer flexiblen und offenen Hybrid Cloud-Plattform können Workloads auf der am besten geeigneten Hardware ausgeführt werden und dezentrale, interdisziplinäre Teams agil und sicher gemeinsam arbeiten.
Das gilt besonders, wenn Quantencomputer in die Cloud gebracht werden. Die Möglichkeiten des Quantencomputings eröffnen ein völlig neues Potenzial. Pilotprojekte sind bereits angelaufen: Am 15. Juni 2021 enthüllten Fraunhofer und IBM den ersten IBM Quantum System One außerhalb der USA für die Öffentlichkeit. Ziel ist es,Akteure aus Forschung und Industrie zu vernetzen und den Einsatz von Quantencomputern zu fördern, weswegen Fraunhofer auch Universitäten und Unternehmen Zugriff auf den Quantencomputer ermöglicht. Im kanadischen Québec arbeitet IBM mit der dortigen Regierung am Aufbau eines Technologiezentrums für Nachhaltigkeit, Biowissenschaften und Halbleiter. Im englischen Daresbury läuft mit dem Science and Technology Facilities Council eine ähnliche Kooperation. Und im Rahmen einer zehnjährigen Partnerschaft mit der US-amerikanischen Cleveland Clinic sollen Forschungsvorhaben zu Therapien beschleunigt werden. Bei allen Kooperationen kommen Quantencomputer, aber auch Hochleistungsrechner und KI-Technologien zum Einsatz.
Fazit
Accelerated Discovery beschleunigt Forschungs- und Entwicklungsprozesse mit Hilfe von KI-gestützten Technologien, Hybrid Cloud und der enormen Leistungsfähigkeit des Quantencomputings. Die Entdeckung und Entwicklung neuer Materialien soll so um ein Vielfaches schneller werden – die Rede ist vom zehn- bis hundertfachen des heute Möglichen. Das Potenzial für die Bewältigung der beiden großen Wandlungstendenzen unserer Zeit – Digitalisierung und Dekarbonisierung – ist enorm. Der Ansatz wird so dazu beitragen, Nachhaltigkeit, Gesundheit und Versorgung mit wichtigen Gütern und Medikamenten zu verbessern und damit unsere Wirtschaft und Gesellschaft resilienter gegen künftige Krisen zu machen.
Picture Credit: All rights reserved by IBM
Bildtext: IBM-Forscher Dr. Teodoro Laino bei der Arbeit mit einem Roboterwerkzeug, das in IBM RoboRXN integriert ist. Bei RoboRXN handelt es sich um ein cloudbasiertes, KI-gesteuerten Labor für die Materialsynthese.